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Martin Gehl

Telefon: +49 611 945 844 14

E-Mail: martin.gehl@stiftung-mih.de

#wärmespenden

Spendenaktion der Diakonie Hessen und der Landesstiftung „Miteinander in Hessen“

Frostige Winternächte, lange Hitze-Perioden oder kurzfristige Temperaturschwankungen: Extreme Wetter setzen obdachlosen Menschen mehr zu als anderen, da sie durch die alltägliche Organisation des Überlebens häufig gesundheitlich angegriffen sind. Um ihnen während der kalten Wintermonate zu helfen, haben die Diakonie Hessen und die Landesstiftung „Miteinander in Hessen“ die Aktion #wärmespenden ins Leben gerufen.


Warum Obdachlose draußen schlafen

Kein Mensch muss in Frankfurt auf der Straße schlafen, heißt es immer. Trotzdem sind Hunderte Obdachlose unterwegs, auch Frauen, für die dieses Leben besonders gefährlich ist. Woran hapert es?

Eine Nacht im Keller des Hauses Lilith ist das reinste Panoptikum. Jemand blockiert die Dusche, eine Besucherin hämmert deswegen an die Tür, eine andere, die gerade auf der Toilette sitzt, denkt, das Gepolter gelte ihr, und kommt mit heruntergelassener Hose aus der Kabine. So beschreibt es Inga Störkel, und die hat schon einiges gesehen. Seit Jahrzehnten arbeitet sie mit psychisch Kranken, fünf Jahre auch in der geschlossenen Psychiatrie, seit knapp drei Jahren leitet sie das Haus Lilith, eine Anlaufstelle für obdachlose Frauen von der Diakonie.

Eigentlich wohnen in den schlichten Zimmern auf mehreren Geschossen Frauen, die obdachlos geworden sind. Sie haben ihren gewalttätigen Partner verlassen und standen plötzlich auf der Straße. Sie haben es nicht mehr geschafft, ihre Briefe zu öffnen, und haben so viele Rechnungen angehäuft, bis sie aus der Wohnung geflogen sind. Sie haben es verpasst, eine neue Bleibe zu finden, als ihr Mietvertrag auslief. Psychische Auffälligkeiten und Traumata haben die meisten.

Mit Kreppband abgeklebte Parzellen

Im Haus Lilith können sie dann für bis zu zwei Jahre unterkommen, ihr Leben mithilfe von Sozialarbeitern sortieren und wieder auf die Beine kommen. Die Kosten trägt die Stadt – das bedeutet, dass nur leistungsberechtigte Frauen einziehen können. Doch in der kalten Jahreszeit gibt es im Keller des Hauses nahe des Frankfurter Zoos außerdem eine Notübernachtungsstätte, und die ist offen für alle, vorausgesetzt, sie sind weiblich. Bis Ende März schlafen dort Frauen, die auf der Straße leben. Das sind Migrantinnen, Europäerinnen ohne Anspruch auf Hilfsleistungen, Frankfurterinnen, psychisch kranke Frauen, traumatisierte Obdachlose, die seit Jahren auf der Straße leben, aber auch mal eine Studentin, die vor ihrem prügelnden Freund flieht.

Die Notübernachtung beim Haus Lilith ist die einfachste Schlafstätte, die man sich vorstellen kann. Im beheizten Keller haben Inga Störkels Mitarbeiter mit Kreppband gleich große Parzellen auf dem Betonboden abgeklebt, in die je eine Isomatte passt. Tagsüber stehen in jedem Rechteck ein Stuhl, eine zusammengerollte Matte, ein Schlafsack und eine Plastikwanne für die persönlichen Dinge der Übernachterin.

„Das kann der erste Schritt zurück ins Leben sein“

Ein Schlafplatz nur für Frauen wird gebraucht: Viele haben Angst vor gemischten Einrichtungen wie der B-Ebene am Eschenheimer Tor, der einfachsten Notübernachtung in Frankfurt. Jeder kann kommen – egal ob leistungsberechtigt, illegal eingewandert, krank, auf Drogen, laut, betrunken, mit Hund im Schlepptau, Mann oder Frau – und ein Lager in der beheizten B-Ebene aufschlagen, um nicht Gefahr zu laufen, in der Kälte zu erfrieren.

Positiv gesprochen, ist das Angebot sehr niedrigschwellig. Das bedeutet aber auch, dass man dicht an dicht neben Menschen schläft, aus deren Gepäck Ungeziefer krabbelt. Immer wieder kommt es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen. Dabei muss das eigene Hab und Gut die ganze Nacht umklammert werden.

Viele Frauen fühlen sich dort nicht sicher. Einige berichten von Übergriffen, fast alle von Beleidigungen oder Sprüchen, die ihnen Angst machen. Wer sich doch hintraut, kann nicht immer bleiben: Anja Wienand, der Leiterin der Frankfurter Bahnhofsmission, haben obdachlose Frauen erzählt, dass sie Hausverbot bekommen, weil sie in den Eingang pinkeln. Zunächst verständlich – aber wenn sie fragt, warum sie das machen, kommt: „Ich lass mich doch nicht jedes Mal vergewaltigen, wenn ich aufs Klo gehe.“

Auch darum gibt es die Anlaufstellen speziell für Frauen wie das Haus Lilith und den angegliederten Tagestreff 17-Ost, zu dem auch die Notübernachtung gehört. Im 17-Ost können Frauen ihre Wäsche waschen, einen Kaffee trinken, bekommen eine Postadresse. „Das kann der erste Schritt zurück ins Leben sein“, sagt Störkel – zum Beispiel, um Bürgergeld zu beantragen. Richtige Notbetten für Frauen gibt es in Frankfurt auch, zum Beispiel im Haus Hannah, das ebenfalls von der Diakonie betrieben wird. Aber dort können die Frauen maximal zehn Tage am Stück bleiben. „Das reicht nicht, um den Absprung in ein neues Leben zu schaffen“, sagt Anja Wienand von der Bahnhofsmission. Bei ihr landen am späten Abend die Fälle, die nirgendwo untergekommen sind. Sie unterzubringen scheitert oft.

So viele Obdachlose wie nie zuvor

Obdachlose Frauen sind eine Minderheit. Die absolute Mehrheit der Betroffenen seien Männer, sagt Inga Störkel. Die meisten Einrichtungen sind darum für Männer oder gemischt. Frauen ohne Wohnsitz seien schwer zu erreichen, sagt Störkel: „Sie sind oft misstrauisch.“ Genderspezifische Einrichtungen seien darum wichtig. Manche Frauen bleiben den gesamten Winter, im Garten steht ein Zelt, in dem sie ihr Gepäck unterstellen können. Zehn Plätze gibt es in der Notübernachtung, in den kalten Nächten war es „bumsvoll“, wie Störkel sagt. Ganz belegt ist der Keller aber nie.

Warum sind auf den Straßen dann so viele Obdachlose unterwegs, auch Frauen? Der Kältebus, den der Frankfurter Verein betreibt, zählt jede Nacht die Menschen, die draußen schlafen. Um die 250 sind es. Notschlafplätze gibt es weit mehr: Allein am Eschenheimer Tor und im Ostpark stehen 400 bereit. Rechnerisch gibt es also genug Plätze, zumindest um im Warmen eine Matte auszurollen. „In Frankfurt muss niemand auf der Straße schlafen“, heißt es immer wieder aus dem zuständigen Sozialdezernat.

Allerdings gehen Fachleute davon aus, dass es weit mehr Obdachlose gibt, als der Kältebus zählt. Störkel erkennt an Trampelpfaden in Kleingartenanlagen, wo sich heimlich Leute niederlassen. Dorthin kommt der Bus nie. Anja Wienand bemerkt zudem immer wieder neue Gesichter unter den Gästen der Bahnhofsmission. Und außerdem ist da die Sache mit den Schlafsäcken: „Normalerweise geben wir in einer Saison bis zu 350 Schlafsäcke aus. Aktuell sind es schon mehr als 500“, sagt sie. Es sind so viele wie nie zuvor. Dass die Obdachlosen sich einfach mehrere Exemplare holen, dass sie die Schlafsäcke austauschen, wenn sie nass werden, oder verkaufen – all das seien keine Faktoren, die ihre interne Statistik so verzerren könnten. „Das ist ja in all den Jahren vorher auch schon eingepreist gewesen.“

Zu verängstigt, um Hilfe anzunehmen

Dass sie draußen schlafen, liegt nach Ansicht der Fachleute aus der Obdachlosenhilfe aber vor allem daran, dass die Klienten nicht in der Lage sind, in eine Unterkunft zu gehen. Sie kommen nie an, weil sie auf dem Weg Drogen nehmen oder trinken. Sie finden den Weg nicht. Vor allem aber sind viele der Obdachlosen psychisch krank – aber „nicht einsichtig“, wie Störkel sagt.

Sie halten sich selbst für gesund. Sie nehmen keine Medikamente gegen ihre Psychosen oder Depressionen, sind zum Großteil nicht wohnfähig. Das klingt erst einmal sperrig, aber Störkel kann gut beschreiben, was damit gemeint ist: Weil sie sich überwacht fühlen, reißen die Frauen die Kabel aus den Wänden. Oder sie benutzen für die Notdurft nicht die Toilette, weil sie sich dort fürchten, und verstopfen die Abflüsse, weil sie denken, dass aus denen irgendetwas hervorkriechen wird. Manche sind auch so verängstigt, dass sie gar keine Hilfe annehmen, nicht einmal einen Tee. Sie kommen auch bei bitterster Kälte nicht zu den Notschlafstätten. Eine Frau, die Inga Störkel kennt, lebt unter einem Busch auf einem nahen Grünstreifen. „Wir können denen 500 Betten anbieten, die nehmen die nicht an.“

Anja Wienand beobachtet, dass es immer mehr psychisch Auffällige gibt. „Das bestätigt jede Einrichtung.“ Sie glaubt, dass Klimakrise, Corona-Pandemie und Krieg diejenigen, die kein sozial gefestigtes Umfeld haben, noch stärker getroffen haben. Allein an einem Tag hatte sie kürzlich zwei Frauen, die nackt in der Bahnhofsmission herumliefen. In einer Unterkunft mit anderen sind solche Fälle schwer unterzubringen. Es brauche darum mehr Therapieplätze, um das Problem an der Wurzel anzugehen. Störkel sagt, dass es außerdem wichtig wäre, das Personal in den bestehenden Einrichtungen zu schulen, es sozialpsychiatrisch auszubilden.

Keine Aufnahme bei aktivem Drogenkonsum

Die Klienten, die zwar eine Unterkunft annehmen würden, aber keine finden – vor allem die Frauen, die aus den genannten Gründen nicht ans Eschenheimer Tor wollen, aber auch ältere Obdachlose -, scheitern nach Wienands Ansicht an den Zugangshürden. Die Einrichtungen seien nicht niedrigschwellig genug. Wer rein will, braucht erst mal einen Gesundheitscheck, und wer Drogen konsumiert, fliegt raus. Doch viele Frankfurter Obdachlose nehmen Drogen. Oder, um es präziser auszudrücken: „Wer konsumiert, wird irgendwann obdachlos.“ Das hat Wienand häufig beobachtet. Die Sucht frisst das Leben auf. Der begehrte Stoff steht über allem anderen, und wer entzügig ist, wird wirklich alles für die nächste Dosis tun.

Auch in der Notübernachtung am Zoo gelten Zugangsvoraussetzungen. Störkel schickt Frauen, die übernachten wollen, zuerst zur Elisabeth-Straßenambulanz. Dort werden sie auf Läuse, Flöhe oder ansteckende Krankheiten untersucht. Das ist auch für die Frauen gut, vor allem schützt es die anderen Besucherinnen. Störkel kann es sich nicht leisten, dass es in ihrer Einrichtung irgendeinen Ausbruch gibt – oben im Haus wohnen 30 Frauen, den Tagestreff besuchen täglich zig Obdachlose. Manche wollen sich nicht untersuchen lassen. Gezwungen werden sie nicht. Doch dann können sie eben nicht im Keller auf der Isomatte schlafen.

Aktive Drogenkonsumentinnen kann Störkel überhaupt nicht aufnehmen. Mit nur einer Mitarbeiterin nachts sei es das nicht zu machen, wenn jemand im Rausch oder im Entzug die ganze Übernachtungsgesellschaft stört. Es sei schon schwer genug, mit den psychischen Herausforderungen fertigzuwerden: „Wenn sich drei akut psychotische Frauen nachts gegenseitig anschreien und anspucken, dann ist hier Feierabend.“

„Es ist ein gutes System, aber da ist eine Lücke“

Im vergangenen Jahr gab es eine heftige Eskalation. Eine Konsumentin wollte in die Notübernachtung. „Sie war vollkommen zugedröhnt“, sagt Störkel, sie tippt auf Crack. Die Frau durfte nicht hinein. Daraufhin griff sie die Leiterin der Einrichtung mit einer Zigarette an, versuchte, ihr den glimmenden Stummel in die Augen zu stechen, und versetzte ihr einen Faustschlag ins Gesicht. Zufällig war ein SEK in der Nähe. „Die waren anderthalb Stunden mit der Frau beschäftigt.“

Passen also die Angebote nicht zum Bedarf? Sowohl Wienand als auch Störkel heben hervor, wie gut die Hilfen gerade in Frankfurt seien. „Die Stadt bietet viel an, das ist beeindruckend“, sagt Störkel, die 18 Jahre ihres Berufslebens in der Schweiz verbracht hat. Trotzdem: Eine Matte allein reicht meist nicht. „Viele Bedürfnisse stimmen nicht mit dem Hilfeangebot überein.“ Die Klienten wünschen sich zum Beispiel, eigene Entscheidungen treffen zu können – was sie essen, wann sie aufstehen, wie nah sie bei anderen Obdachlosen liegen müssen. Doch das ist nicht immer umzusetzen. Die Balance zwischen der Selbstbestimmung der Klienten und den Erfordernissen des Zusammenlebens oder der eigenen Sicherheit ist wackelig.

„Es ist ein gutes System, aber da ist eine Lücke“, fasst Inga Störkel zusammen. Der müsse man mit Demut begegnen. Aufgeben würde sie aber nie. Dafür hat sie schon zu oft erlebt, wie es doch jemand raus aus der Obdachlosigkeit, raus aus der persönlichen Hölle einer unbehandelten psychischen Krankheit schafft.

Ein Artikel aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, erschienen am 14. März 2024 von Theresa Weiß.

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